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Andere Formen des Kampfes sind möglich

Interview mit der nicaraguanischen Feministin Yerling Aguilera

Yerling Aguilera ist Soziologin und hat bis 2018 an einer Universität in Managua gelehrt. Dann wurde sie wegen ihrer Teilnahme an den Protesten gegen das zunehmend autoritäre Regime von Daniel Ortega und Rosario Murillo ins Exil gezwungen. Heute lebt sie in Frankreich. Im Interview spricht Yerling Aguilera darüber, was die neue Protestgeneration von der sandinistischen Revolution der 70er- und 80er-Jahre unterscheidet. Sie meint: Die Proteste von 2018 mit ihrer Praxis der Solidarität, Autonomie und horizontalen Strukturen sind eine praktische Antwort auf die Fehler „linker“ Politik in Nicaragua.

Barbara Lucas

Yerling, du wurdest 1991 in Nicaragua geboren, also nach der Wahlniederlage der sandinistischen Regierungen der 80er-Jahre, nach dem Wahlsieg von Violeta Chamorro und nach dem Friedensabkommen mit der Contra. Was war für dich das, was immer allgemein „die Revolution“ hieß?

Als Kind habe ich wenig von dem erfahren, was „die Revolution“ war. In meiner Familie väterlicherseits gab es eher Ablehnung gegenüber der Revolution und in der Schule, die ich ja in Zeiten der neoliberalen Regierungen besucht habe, war dieses Thema aus dem Lehrplan gelöscht. Eigentlich wusste ich nichts über „die Revolution“, bis ich an der Universität Soziologie studierte. Dort habe ich für meine Abschlussarbeit über die Frauen in der Guerilla der FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront – d. Red.) geforscht. Das hat mich bewegt und die konkreten Personen und ihre Geschichten hinter den Namen sichtbar gemacht. Ich habe verstanden, wie einzelne Frauen sich entschieden haben, radikal etwas zu verändern und zu den Waffen zu greifen.

Es gab ja durchaus viele Frauen in der Guerilla der 70er-Jahre gegen die Somoza-Diktatur, aber nach deren Sturz bekamen nur wenige Frauen Posten in der neuen sandinistischen Regierung und im Führungsgremium der FSLN waren neun Männer, aber keine einzige Frau.

Ja, das stimmt, und die Frauen von der Basis der Guerilla, die ich interviewt habe, waren durchaus wütend darüber, dass sie alles für die Revolution gegeben hatten und am Ende von den Orten, wo die Entscheidungen gefällt wurden, ausgeschlossen wurden. Sie haben sich später selbst von „der Revolution“ entfernt oder sie wurden durch politische Maßnahmen der FSLN herausgedrängt. Auch die Mutterschaft drängte sie aus verantwortlichen Positionen. Sie passten oft als ehemalige Guerillakämpferinnen nicht mehr an ihren alten Platz und fanden keinen neuen.

Es scheint so, dass es vielen Frauen, vielen Menschen auf dem Land, vielen Indigenen und Afronicaraguaner*innen irgendwann so gegangen ist, dass sich ihre Bedürfnisse nicht in dem von oben vermittelten Ideal der Revolution wiederfanden. Nun sind mehr als 40 Jahre vergangen, die FSLN hat sich gespalten, lange Zeit waren neoliberale Regierungen an der Macht und im Endeffekt kam Daniel Ortega aufgrund von politischen Verabredungen mit der alten Elite, der Kirche und der Unternehmerschaft wieder an die Regierung. Im April 2018 wurden die breiten Proteste gegen seine autoritäre Herrschaft brutal niedergeschlagen. Wie wurden diese Proteste organisiert?

Die Familie Ortega/Murillo hatte faktisch alle staatlichen Strukturen okkupiert. Die Menschen konnten sich nur spontan organisieren, „autoconvocados“ nannten wir das, und hatten großes Misstrauen gegenüber allen Vertreter*innen von Institutionen, die ja zuvor mit der Regierung Ortega zusammengearbeitet hatten, wie zum Beispiel die gesamten Unternehmerverbände und das private Kapital. Von daher gab es wenig Vertrauen in politische Parteien und in diejenigen, die dann beim „Nationalen Dialog“ mit der Regierung verhandelten.

Patria libre o morir“ („Freies Vaterland oder sterben“) war im Kampf gegen die Somoza-Diktatur und in den 1980er-Jahren im Kampf gegen die Contra die wichtigste Parole. Sie basierte auf einer revolutionären Ethik, die auf Aufopferung für die Revolution abzielte. Warum wurde dem 2018 die Parole „Patria libre para vivir“ („Freies Vaterland, um zu leben“) gegenübergestellt?

Ja, die Idee der 70er- und 80er-Jahre war, alles für die Ideale zu geben, selbst das eigene Leben. Das ist in meinen Augen sehr fragwürdig, da diese Ideale notwendigerweise oft sehr abstrakt waren. Diese alte Parole wurde in den Protesten von 2018 aufgegriffen, umgewandelt und mit einem neuen Inhalt gefüllt. Mit dem Begriff des „Vivir“ (Leben) wurden der Mensch und das Leben ins Zentrum gerückt. Gerade von Feministinnen wurden die abstrakten Ideale infrage gestellt und eingefordert, von den eigenen Bedürfnissen auszugehen. Sie bestanden auf dem Recht, auf sich selbst zu achten, das eigene Leben in den Mittelpunkt zu stellen und gegebenenfalls einen Schritt zurückzugehen. Sie waren nicht bereit, ihr Leben für ein abstraktes Projekt zu riskieren, das von anderen definiert wird.

Meines Erachtens ist die neue Parole auch eine Art Schutzschild, der uns hilft, uns gegenüber einer Linken zu positionieren, die kritisiert, dass die Proteste sich gegen eine „linke Regierung“ und „die Revolution“ gerichtet hätten. Diese „Revolution“ ist nur noch eine abstrakte Worthülse. Wir fragen: „Revolution für wen? Wer erntet die Früchte dieser Revolution?“ Die Umwandlung der Parole ist deshalb auch eine Kritik an einer Revolution, in der wir als Frauen nicht vorkamen, und an einem Revolutionsideal, das uns von oben vorgegeben wird. Wir sagen, wir verdienen ein menschenwürdiges Leben. Das Ideal, ein Projekt bis zum Tod zu verteidigen, ist auf Stärke gerichtet und sehr machistisch. Wir lehnen dieses Ideal des starken Guerillero, des Helden, der sich für das Vaterland aufopfert, ab.

Frühere Kämpfe schienen dann erfolgreich, wenn sie zur „Revolution“ und zum „Triunfo“ (Sieg) geführt haben. Was denkst du, aus welcher Perspektive die Kämpfe der sozialen Bewegungen heute betrachtet und bewertet werden sollten?

In Lateinamerika sehen wir in den letzten Jahren Mobilisierungen, die sich zwar gegen die Regierungspolitiken wenden, die aber nicht notwendigerweise darauf abzielen, die Regierungsmacht zu ersetzen und sie selbst einzunehmen. Der Staat wird nicht mehr unbedingt als Instrument für die Verwirklichung emanzipatorischer Prozesse gesehen und die Eroberung der Staatsmacht wird nicht mehr als entscheidend für gesellschaftliche Veränderungen betrachtet. Wir haben lernen müssen, dass selbst linke Regierungen nicht unbedingt die Forderungen der Bevölkerung umsetzen oder umsetzen können. Soziale Bewegungen wollen oft selbst keine parteipolitischen Akteure werden oder an die Macht gelangen. Die „Azul y blanco“-Bewegung (2018 gegründeter Zusammenschluss mehrerer sozialer Organisationen –
d. Red.) zum Beispiel hatte nicht das Ziel, die Regierungsmacht zu übernehmen oder sich zu einer politischen Partei zu entwickeln. Auslöser für die Bewegung war die Kritik an der Politik der Regierung Ortega/Murillo. Deswegen richtete sich auch die Praxis der Proteste gegen diesen Vertikalismus und die autoritären Strukturen. Sie baute horizontale Strukturen als Alternative dazu auf.

Oder die feministische Bewegung: Auch wenn die in Nicaragua nie eine Massenbewegung war, so war sie doch in der Lage, ihre Themen wie Gewalt gegen Frauen oder das Recht auf Abtreibung einzubringen und Risse im gesellschaftlichen Konsens zu bewirken. Sie hat Veränderungen angestoßen, ohne die Regierungsmacht ergriffen zu haben. Viele Frauen waren bei den Protesten von 2018 vertreten und ihre Stimmen wurden gehört. Sie haben immer wieder machistische Erzählungen und autoritäre Praktiken auch innerhalb der Protestbewegung infrage gestellt.

Diese alltäglichen kleinen Praktiken haben neue Wege zu gesellschaftlicher Veränderung aufgezeigt, das ist eine neue Welle des Widerstandes. Dabei wird ihr Erfolg nicht am „Triunfo“ (Sieg) im Sinne von Machtübernahme gemessen. Die gesellschaftliche Veränderung fängt im Kleinen an und breitet sich aus, auf immer mehr Wegen, nach ihrem eigenen Rhythmus.

Das Interview führte Barbara Lucas am 28. April 2023 im Refugio in Berlin im Rahmen einer Veranstaltung mit Yerling Aguilera zum fünften Jahrestag der Proteste in Nicaragua vom April 2018.

2021 veröffentlichte Yerling Aguilera den Artikel „Andere Formen des Kampfes sind möglich“, der auf Interviews mit Beteiligten der Proteste basiert: https://www.rosalux.org.ec/producto/desbordes/