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Die ersten 30 Jahre

Teil 2/3 der Mini-Serie: Blick zurück und vorwärts auf Meilensteine der zapatistischen Bewegung in Chiapas

Zur Jahreswende feierten die Zapatistas den 30. Jahrestag ihres Aufstands vom 1. Januar 1994. Mit Autor Luis Hernández Navarro sprach ila-Autorin Danuta Sacher über die wichtigsten Dimensionen der zapatistischen Bewegung: Land, Würde, Wahlreform, Autonomie und Kultur.

Danuta Sacher

Was sind die wichtigsten Errungenschaften der „ersten“ 30 Jahre der zapatistischen Bewegung?

Diese 30 Jahre können nicht ohne den Vorlauf des indigenen Kampfes in Chiapas gesehen werden. Nehmen wir den Indigenenkongress von 1974 (Congreso Indígena), den die Diözese von Chiapas unter Leitung von Bischof Samuel Ruíz initiiert hatte. Dieser Kongress markierte ein Vorher und ein Nachher. Auch wenn er unter vier Fragestellungen organisiert war – Land, Gesundheit, Bildung, Vermarktung der Agrarprodukte –, war das Herzstück ganz klar die Landfrage. Schließlich kam die mexikanische Revolution nicht oder zu spät und nur unvollständig in Chiapas an. Es gab nur eine begrenzte Agrarreform, die das System der Finca weiterbestehen ließ, das sich von der Hazienda in einigen schändlichen Details unterscheidet, was die Beziehungen zwischen dem Finquero und den ihm untergeordneten Landarbeiter*innen betrifft. Sie wurden „Acasillados“ genannt und lebten und arbeiteten Leibeigenen ähnlich auf dem Grundbesitz des Finquero. Es galt das sogenannte „Recht der ersten Nacht“, das heißt die Grundbesitzer missbrauchten die Frauen. Diese Bilder vom Finca-System sind bis heute sehr präsent.

Eine der Antworten darauf war Flucht. Diejenigen, die die Fincas verließen und unter sehr schwierigen Bedingungen im Regenwald neue Siedlungen anlegten, mussten das Kollektiv an die erste Stelle setzen. Und das in einem sehr großen Gebiet, in dem es keine staatliche Präsenz gab, sondern die katholische Kirche viele Funktionen erfüllte, die andernorts vom Staat wahrgenommen werden. Da es sich bei der damaligen Diözese von Chiapas um eine sehr große Einheit handelte, musste sie vor Ort Pastoralreferenten und Diakone ausbilden, die zu einer Art lokaler Intellektueller in den Gemeinden wurden.

Seit 1974 entwickelten sich drei große Strömungen in der Bauern- und Landarbeiterbewegung in Chiapas: zum einen der Kampf um Zugang zu Land, hier besonders sichtbar die OCEZ in Venustiano Carranza; zum anderen die Versuche der CIOAC in Simojovel, Huituipán und anderen Orten, die landwirtschaftlichen Tagelöhner gewerkschaftlich zu organisieren; schließlich der Kampf des Kooperativenverbands ARIC Unión de Uniones um die Regulierung und Legalisierung ihres Landes, insbesondere ab 1972, als der Staat mit einem Dekret mehr als 600 000 Hektar des Lakandonischen Regenwalds in den Besitz von etwa 60 lakandonischen Familien überschrieb, obwohl das Gebiet bereits von Choles und Tzeltales besiedelt war, darunter viele Familiengruppen, die dem genannten Finca-System entflohen waren. So entwickelte sich aus dem Bemühen um Schutz und Regulierung vorhandener Siedlungen in der Selva Lacandona ein Konflikt, der unter anderem bis zur Konfrontation mit der Armee führte. Die Organisation rund um das Thema Land schreitet also voran, die produktive Selbstorganisation entwickelt sich, der Glaube und das Wort Gottes stimulieren die Organisation und die Gemeinden reagieren auf den Bedarf – zunächst – von Selbstverteidigung und später von bewaffneten Verbänden. In diesen Kontext kommt 1983 diese Gruppe von sechs Personen in den Regenwald – drei Indigene, drei Mestizen, fünf Männer, eine Frau – und wird zum Vehikel für die Bedürfnisse der Gemeinden vor Ort, um sich dem Großgrundbesitz entgegenstellen zu können. Vergessen wir nicht, dass letztere über die paramilitärischen Verbände der sogenannten Guardias Blancas verfügten und die Armee auf ihrer Seite hatten.

Die erste Errungenschaft der Zapatisten in diesen 30 Jahren war, diesem enormen Bedarf nach Land ein Ventil gegeben zu haben. Im Ergebnis, auch des bewaffneten Aufstands 1994, kann es als eine Agrarreform von unten, nicht von Staats wegen, beschrieben werden, in deren Verlauf mehr als 150 000 Hektar besetzt wurden, etwa 53 000 davon in Händen der Zapatisten, von einem Moment zum nächsten. Dieses Land ist die materielle Basis, von der aus die Zapatisten ihre Vorhaben von Autonomie und Selbstverwaltung und von kollektiver Arbeit starten konnten. Es erklärt auch teilweise die aktuellen Vorgänge, wo es Druck vom organisierten Verbrechen gibt, aber auch von anderen Bauernorganisationen, denen die Regierung Angebote macht, für die sie aber Land nachweisen müssen. Es gibt also erneut Druck auf das Land der Zapatisten, und in diesem Zusammenhang machen die Zapatisten jetzt diesen Vorschlag von gemeinschaftlichem Land.

Das sogenannte Nicht-Eigentum?

Richtig, es ist eine Metapher wie Luft: Luft gehört allen, wir alle atmen sie. Natürlich gibt es Regeln für die Nutzung von Land ohne Eigentumstitel, aber in dem beschriebenen gemeinschaftlichen Verständnis.

Neben dieser ersten Dimension von Errungenschaften der vergangenen 30 Jahre sehe ich eine zweite Dimension, und die hat mit Würde zu tun, mit dem Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung. Chiapas ist ein Ort, an dem es historisch eine ungeheure Verachtung für die indigene Bevölkerung gab. Die Romane von B. Traven oder Rosario Castellanos beschreiben es. Misshandlung als Selbstverständlichkeit, indigene Personen wurden nicht wirklich als Menschen behandelt. Der Zapatismus stellte die indigene Würde in den Mittelpunkt seiner Forderungen – das Recht, als Gleiche behandelt und als Gleiche angesehen zu werden. Dies ist die wichtigste Bewegung gegen Rassismus und Diskriminierung in Mexiko. Du kannst es an so einfachen Dingen wie dem Blick sehen – wie indigene Menschen dich heute an jedem Ort in Chiapas ansehen: Sie blicken nicht mehr zu Boden, schauen dir in die Augen und behandeln dich als Gleichen.

Die dritte große Dimension von Errungenschaften bezieht sich auf die Veränderungen, die der zapatistische Aufstand im politischen System Mexikos ausgelöst hat. Als Folge des Aufstands musste eine Wahlreform durchgeführt werden, die zwar nicht von den Zapatisten ausgehandelt wurde, aber ein Ergebnis des Aufstands und seiner gesellschaftlichen Wirkung war. Der Regierung wurde die Kontrolle über die Wahlen entzogen und ein unabhängiges Institut gegründet, das heute Nationales Wahlinstitut heißt (INE, zu dessen Verteidigung gegen AMLOS Reformpläne am 18. Februar Zehntausende in Mexiko auf die Straße gingen, d. Red.), und die Wahlen unabhängig organisiert. Ausgehandelt wurde es von den Parteien, aber ausgelöst durch den vom Aufstand der Zapatisten ausgehenden Druck. Dies schuf die Voraussetzungen für einen politischen Übergang weg vom Monopol der Staatspartei PRI. Das wäre ohne die Zapatistas nicht denkbar gewesen.

Die vierte Dimension von Errungenschaften hat nach meiner Ansicht mit den Forderungen rund um Selbstbestimmung und Autonomie zu tun. Autonomie ist zunächst ein juristisches Thema und erfordert eine Verfassungsreform, die die originären Völker anerkennt und ihre Selbstbestimmung und Autonomie als Teil der Verfassung verankert. Das wurde am 16. Februar 1996 bei den Friedensverhandlungen der mexikanischen Regierung mit den Zapatisten in San Andrés Larrainzar entsprechend vereinbart. Aber da der Staat sein Wort bisher nicht gehalten hat, setzten die Zapatistas die Vereinbarung eigenständig in die Praxis um, was 2003 mit dem System der Autonomen Gemeinden, der Räte der Guten Regierung und den Caracoles auf der Regionalebene sichtbar wurde. Heute ist die Einschätzung der Zapatisten, dass dieses System an seine Grenzen gestoßen ist, dass es die Logik von vertikalen Regierungen reproduziert hat und dass deswegen der Schwerpunkt wieder auf die Gemeinde gelegt werden soll.

Dies ist auch angesichts der Bedrohungen durch das organisierte Verbrechen wichtig, deren Angriffe sofortige Reaktionen erfordern. Mit den neuen Lokalen Autonomen Regierungen (Gobierno Autónomo Locál, GAL) gibt es nun die Möglichkeit, schneller zu reagieren.

Eine fünfte Dimension von Errungenschaften ist die Kultur: Der Zapatismus hat die mexikanische Kultur tiefgreifend verändert, was sich zum Beispiel im Rock zeigt, im Boom des Ska, in der Fotografie, in der Malerei und in der allgemeinen Aufwertung des Indigenen, in dessen kultureller Welt die Gemeinschaft, das Kollektiv, die gegenseitige Hilfe und die Solidarität eine andere Wertegrundlage bilden. In den letzten 30 Jahren hat es also viele Veränderungen gegeben, nicht nur bei den Zapatistas, sondern in der Gesellschaft insgesamt.

Was ist das wichtigste Geschenk, das du von der zapatistischen Bewegung erhalten hast?

Ich habe viele Jahre lang mit sozialen Bewegungen gearbeitet, mit Lehrer*innen, Bäuerinnen und Bauern, indigenen Menschen, den städtischen Armen, und versuchte immer Ansätze von Selbstverwaltung und Autonomie in den Mittelpunkt zu stellen. Leider haben sich die meisten dieser Initiativen mehr oder weniger schnell in klientelistische oder korporativistische Gruppen verwandelt. Der Zapatismus nicht. Der Zapatismus hat auf eine Art, die nicht meine war, seine Bewegung aufgebaut und es ermöglicht, Forderungen rund um das Thema Autonomie und Selbstbestimmung in ganz Mexiko, ja weltweit, zu legitimieren. Er hat einen neuen Internationalismus aufgebaut, hat den Kampf der Frauen als außergewöhnliche Kraft ins Zentrum gerückt, und erschafft tatsächlich von unten eine andere Welt, eine andere Kultur, die nach meiner vorherigen Erfahrung unweigerlich in institutioneller Politik mündete.

Luis Hernández Navarro ist Schriftsteller und Journalist in Mexiko. Er leitet das Meinungsressourt der Tageszeitung „La Jornada“. In den 70er Jahren war er Mitbegründer unabhängiger Gewerkschaften, später Berater unabhängiger Bauernorganisationen. Die Bewegung der Zapatist*innen begleitet er, seit sie an die Öffentlichkeit trat, und nahm als Berater der Zapatist*innen an den Dialogrunden von San Andrés Larraínzar teil.

Das Online-Interview führte Danuta Sacher am 12. Januar 2024.